Wie Saatgut zur Herausforderung wird
Es wird immer klarer, wie anfällig für Schocks und Ungerechtigkeiten die modernen Lieferketten in einem globalisierten System sind. Wenn jetzt infolge des Ukraine-Kriegs, der Energiekrise und der Spekulationen die Lebensmittelpreise steigen, sind vor allem jene betroffen, die nicht leicht über die Runden kommen. Die Menschen müssen wieder eine Beziehung zum Essen aufbauen, sich mit den Ernährungsgrundlagen beschäftigen. Und dazu gehört Saatgut.
Auch die Bäuerinnen im Südtiroler Bauernbund sind überzeugt: „Saatgut sollte als Grundlage unserer Nahrung die Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient“, fordert Bäuerinnen-Dienstleisterin Sabine Schrott. Vor allem im Gemüsebereich sei die Artenvielfalt besorgniserregend geschrumpft, weiß Schrott. Es ist wichtig einen Augenmerk auf alte Sorten wie Puschtra Kohlrübe, Burgstaller Schoatln, Trudner Kobis, Ultner Mohn, Terlaner Steckrübe, Naturnser Mais zu richten. Auch für Elisabeth Kössler vom Sortengarten Südtirol sind die alten Sorten eine Besonderheit, die es unbedingt zu bewahren gilt. Kössler sagt: „Wenn wir sie nicht vermehren, dann gibt es sie nicht mehr.“
Eine Oxfam-Studie schätzte schon 2012, dass nur 4 multinationale Konzerne 90% des weltweiten Handels mit Getreidesaaten beherrschen. Sie züchten auf Hochleistung: sogenannte Hybrid-Sorten, die nur ein einziges Mal gute Ernten bringen. Für die Agrarkonzerne ist es am billigsten, nur eine Sorte zu züchten und die über Jahrzehnte zu verkaufen. Wegen des Klimawandels ist mehr Vielfalt auf den Feldern überlebensnotwendig. Daran arbeiten auch die Menschen hinter der „Open-Source-Seeds“ Initiative (www.opensourceseeds.org).
Die Idee von Open-Source-Saatgut ist recht neu. Es ist ein praktischer Versuch, der Macht großer Chemie- und Saatgutkonzerne entgegenzuwirken, die immer mehr Pflanzen als ihre Erfindung deklarieren wollen. Es ist ein Skandal, dass die EU tatsächlich Patente auf Saatgut ausstellt. Dagegen wollen die AktivistInnen vorgehen. Wie bei Freier Software im Gegensatz zu proprietärer Software sollen die Nutzungsrechte nicht vorenthalten oder beschränkt werden. Open-Source wurde auch in der Südtiroler Landesverwaltung eingesetzt, bevor die (kommerziellen) Interessen der IT-Unternehmen mit Hilfe der Verwalter die Oberhand gewinnen konnten.
Das Prinzip ist bei Software und Saatgut, aus dem unser Essen stammt, das selbe. Im Mai 2022 startete zum Beispiel der Verein Agrecol in Marburg erstmals eine Crowdfunding-Kampagne, um eine neue Roggen-Sorte züchten zu lassen. Das Spendenziel waren 30.000 Euro für einen Roggen, der genau wie Firefox, Linux oder die Messenger-App Signal unter einer freien Lizenz für alle zur Verfügung steht, also für immer von der Patentierung ausgeschlossen ist. So können Bäuerinnen und Bauern einen Teil der Ernte zurückhalten und das Getreide einfach wieder aussäen, wie es Jahrtausende lang in der Landwirtschaft Tradition war. Das Ziel wurde erreicht.
Noch ist nicht ganz durchgedrungen, dass die Vielfalt in der Landwirtschaft ein Gemeingut wie die Versorgung mit Trinkwasser darstellt. Und das Gemeingut Sortenvielfalt kann in Initiativen wie den Gemeinschaftsgärten, auch den interkulturellen, bewahrt werden. Weit weg von Saatgut-Monopolen.
Fazit
Der Geschäftsführer des Verbraucherschutzvereins Robin, Walther Andreaus sagt dazu: „Nachhaltige Lebensmittelsysteme fußen auf Saatgutsicherheit. Eine Verschärfung der Nachhaltigkeitsanforderungen im EU-Lebensmittelsystem ist nicht nur im EU-“New-Green-Deal“ auf Papier zu bringen, sondern durch geeignete politische Maßnahmen zu flankieren. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, den ökologischen und klimatischen Fußabdruck des Lebensmittelsystems der EU zu verkleinern und dessen Resilienz zu stärken, die Ernährungssicherheit angesichts des Klimawandels und des Verlusts an biologischer Vielfalt sicherzustellen. Europa und die weiteren Zuständigen müssen liefern, wollen sie nicht als unfähig zur Umsetzung gelten."